Das, was erscheint, trägt Lebendigkeit in sich. Das Phänomen als subjektive Wahrnehmung wirkt auf uns und berührt uns mit der Wahrheit der Erscheinung im Augenblick. Darin spüren wir auch die Wahrheit und das Dasein des Lebendigen. Das, was durch uns Form und Ausdruck findet und das, was unserem Leben Richtung und Farbe gibt.
In unserer westlichen Gesellschaft, die hauptsächlich von einem materialistischen Weltbild, einer positivistisch veranlagten Wissenschaft und christlich-kantianischen Wertvorstellungen geprägt ist, regiert bisher der kognitive und sicherheitsorientierte Verstand über das intuitiv ausgerichtete fühlende Herz. Was nicht empirisch erklärt werden kann und nicht für unseren Verstand verfügbar gemacht ist, bekommt kaum Gehör und wenig Gewicht. Diese Weise, unser Sein zu begreifen und unser Leben zu sehen, ist sehr verkürzt und begrenzt. Sie lässt nicht nur die für unseren Verstand unfassbare Beseeltheit unseres Daseins außer Acht, sondern retuschiert auch die lebendige Essenz aus jedem Moment. Sei es eine liebevolle Begegnung, sei es eine spannende Situation, eine Überraschung oder ein bestimmter Satz, den wir hören. Unser Verstand analysiert, interpretiert, beurteilt, ordnet ein, vermisst, benennt, reflektiert, erörtert, erklärt oder findet eine Lösung für etwas, was wir als Problem betrachten. Oder auch nicht. Egal, welche Verstandestätigkeit gerade stattfindet, sie dient dazu, uns in Sicherheit zu halten oder zu bringen.
Während dessen gleicht unser Gehirn unsere gegenwärtige Situation ständig mit uns bekannten Mustern, Bildern und Erinnerungen ab und projiziert unterstützende Emotionen oder Körperempfindungen anhand dessen, was unser Unterbewusstsein seit den Jahrmillionen Menschsein gelernt hat, um uns am Leben zu halten. Darin wirkt unsere Angst, die wir oft kaum mehr bewusst haben. Unser System ist also hauptsächlich damit beschäftigt, die Wahrheit und die Berührung des Moments, in dem unser Leben stattfindet, mit kognitiven Prozessen einzuhegen und daraus weitere konzeptualisierte Überlebenstrategien zu sammeln. In einer stetig durch Hektik, Stress und Leistungsorientierung geprägten Welt scheint es so sinnvoller mit dem Strom der Masse mitzuschwimmen, im Kopf noch ein weiteres Mal die Aufgabenliste des heutigen Tages durchzugehen, und 99 % aller Reize unbewusst zu katalogisieren. Aber gelingt es uns einmal einfach stehen zu bleiben und mit all unseren Sinnen wahrzunehmen, wie sich die ersten Sonnenstrahlen im perlenden Tau an einem zarten Spinnennetz am Wegrand liebevoll funkelnd reflektieren und ein Gefühl von warmer Berührung, Staunen und Wonne durch unseren Brustraum bewegt, kommen wir in Kontakt mit dem Lebendigen.
Ein Phänomen des Lebens nehmen wir mit allen Sinnen wahr. Dies geschieht im Moment der Zeit, in der Vergangenheit und Zukunft ineinanderfließen, dem so genannten Moment, und einem aufgeschlossenen Bewusstsein, welches aus dem Gefühl von innerer Sicherheit und Ruhe entsteht und uns gewahr werden kann. Wir beobachten. Wir nehmen wahr, im Moment, während unser Leben geschieht, dass unser Leben geschieht. Mit ein wenig Übung empfinden wir auch, wie sich unser Körper anfühlt, wie Gefühle in verschiedenen Körperregionen aufkommen, uns durchfließen oder auch starr an einer bestimmten Stelle festhängen.
Wir können z.B. auch feststellen, dass wir nichts fühlen. Und mit der Zeit lernen wir auch diese Leere kennen, die in uns klaffen mag, wie eine alte dunkle Wunde. In unserem Herzraum finden wahre Wunder statt: Wenn reines Glück prickelnd und gleichzeitig warm pulsierend Platz genommen hat und sich zärtlich in sich selbst bewegt. Im Außen nehmen wir Einflüsse wahr, die auf uns wirken können. Als Phänomene durch das Hier und Jetzt, sind unsere Sinne Eingangspforten, durch die die gesammelte Realität unserer Lebenswelt in akustischen, visuellen, olfaktorischen und sensuellen Reizen wahrnehmbar ist. Die Noema trifft die Noesis, das Wahrgenommene trifft den wahrnehmenden Teil in uns. Als Epoché bezeichnet Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie als Erkenntnismethode in der Philosophie, außerdem die reine Wahrnehmung ohne konzeptuelle Vorannahmen oder Vorurteile. Wir hören quasi auf, die Elemente unserer Welt in Schubladen einzusortieren, sie zu vermessen oder intellektuell einzuhegen, sondern nutzen all unsere Sinne und Wahrnehmungsorgane, also auch unsere Intuition, unseren Instinkt, das körpersensuelle Wahrnehmungsvermögen, also unsere Fähigkeit mit anderen Menschen, Räumen oder Situationen in Resonanz zu gehen, um uns berühren zu lassen.
Mit dem Lebensintegrationsprozess hat Wilfried Nelles eine Methode beschrieben, über die wir phänomenologisch mit uns selbst in tieferen Kontakt kommen und ganz bewusst das Phänomen: “Ich lebe und ich weiß, dass ich lebe” erforschen können. Wir erwachsen aus uns selbst heraus. Das Kind im Mutterleib, welches sich nicht von der Mutter unterscheiden kann, lebt noch genauso in uns wie unsere jüngeren Versionen des (später verinnerlichten) Kindes, welches sich über das Gefühl und die unbedingte Zugehörigkeit zur Familie sicher hält, und des in sein eigenes unabhängiges Leben strebenden Jugendlichen. Wenn wir uns auf phänomenologische Weise mit unserer eigenen Geschichte näher beschäftigen, entsteht in uns Raum, in dem das erwachsene Selbst seinen Platz und seine Zeit bekommt. Gleichzeitig entdecken wir, dass wir im Lebendigen eingebettet sind und es uns wachsen und gedeihen lässt. Alles ist im Lebendigen eingebettet und es hat seinen eigenen Rhythmus und seine eigene Geschwindigkeit. Unser Verstand formt hingegen, aus Überlebensgründen, sein eigenes Sein, das immer nur unvollständig bleiben kann. Die Gesamtheit aller Widerstände gegenüber dem Sein, wie Thomas Hübl sagte. Alle Anteile unserer Persönlichkeit bestehen aus Anhaftungen oder Identifikationen mit dem Außen. Was wir vermeintlich brauchen, um zu leben, formt unsere Sicht auf die Welt und unbewusst auch unser Ich. Durch das Denken sind und bleiben wir im jugendlichen Anteil verhaftet. Es gilt jedoch, ganz anzukommen im erwachsenen Selbst, in dem wir unseren Anteilen bewusst werden, gelten zu lassen und vielleicht sogar lieben zu lernen.
Fazit: Wir sind am Leben. Wenn wir dies vollständig wahrnehmen wollen, sollten wir aufhören, nur mit unserem Verstand zu funktionieren und wieder all unsere Wahrnehmungsorgane nutzen, um uns im Moment von jedem Phänomen bewusst berühren zu lassen. Am besten fangen wir damit hier und jetzt und bei uns selbst an. Atmung, Herzschlag, alle Gefühle und Emotionen, Stimmungen und Körperempfindungen sind Phänomene sind dafür Eingangstore, zu denen wir direktes Gewahrsein bekommen können. Daran merken wir, dass wir leben und stetig alles im Wandel ist. Wir sind mehr als unser Verstand, der einen Körper steuert, sondern viel mehr reines, lebendiges, Sinn erschaffendes Bewusstsein.
Christian, 03.02.25